12. Kapitel

Euphoria schlug als erste die Augen wieder auf.

Das kenne ich doch…dachte sie, noch etwas schlaftrunken. Und die Stimme dazu, die auch, aber – wem gehört die bloß?

Euphoria blickte sich um, dann sah sie, wem diese Stimme gehörte, die, nicht ohne Routine, wie es schien, aus Virginia Woolfs „Orlando“ vortrug.

Nun rappelte sich auch, Euphoria glaubte es noch kaum, die Poesie auf, rieb sich die Augen, drehte den Kopf, als müsse sie ihn erst wieder einrenken, und blickte dann ebenfalls zu dem unerwarteten Vorleser.

Guten Tag Herr Doktor, sagte die Poesie zu dem noch immer sehr inbrünstig vorlesenden Kirchstettner Arzt. Wie lange habe ich geschlafen?

Der Arzt unterbrach und schien erleichtert, als er Euphoria und die Poesie nun, auf der Stelle wieder hellwach wie gewohnt, auf dem Sofa sitzen sah.

Ungewöhnlich lange, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich bin froh, dass Virginia Woolf tatsächlich gewirkt hat und nun alle wieder bei Sinnen sind. Sagte der Arzt und legte das Buch zur Seite.

Wenn es nach mir ginge, könnten Sie ruhig noch etwas daraus lesen, sagte die Poesie. Aber ich habe da leider etwas sehr Unangenehmes geträumt, bzw. ich nehme an, es war kein Traum. Denn ich bin ansich keine Träumerin. Ich bin meist sehr fest in der Realität verankert. Auch im Schlaf…

Denkst du an eine kolossale Nervensäge, die in unserer Bücherei ihr Unwesen trieb? Fragte Euphoria, die sich nun ebenfalls zu erinnern schien.

Leider ja, sagte die Poesie. Und wenn ich mich richtig entsinne, gab es auch anderswo in Kirchstetten zuletzt Vorkommnisse, die nicht gerade erfreulich gewesen sind.

Hier mischte sich der Arzt nochmal ein: Wollen wir nicht erst in Ruhe zu uns kommen? Ich würde gern kurz ein paar Nachuntersuchungen durchführen. Nur zur Sicherheit.

Klar, sagte die Poesie, aber bitte rasch. Ich habe das Gefühl, wir haben viel Zeit verloren durch diesen lästigen Schlaf.

Der Arzt untersuchte die beiden frisch Erwachten zügig und fragte dann zielstrebig: Wie oft habt ihr Dornröschen gelesen?

Euphoria seufzte: Zu oft, vermutlich…

Ja, bestätigte der Arzt. Das vermute ich auch. Nichts gegen Märchen, aber mit manchen sollte man vorsichtig oder zumindest kritisch sein. Also nicht mehr zu viele davon in Zukunft! Nur noch in gesunden Dosierungen! Und Obacht vor Märchen, in denen Frauen in tiefen Schlaf manövriert und damit außer Gefecht gesetzt werden. Das kann wirken wie K.O.-Tropfen!

Für Märchen, warf die Poesie ein, haben wir jetzt ohnehin keine Zeit mehr! Mir fällt da gerade etwas auf…fragt nicht – ihr wollt es nicht wissen!

Und damit sprang die Poesie auf, zückte ihren Bleistift und steckte damit auf Anhieb wieder voll und ganz in ihren Ermittlungen.

11. Kapitel

Was sollen wir bloß tun? Rief der besorgte Bürgermeister.

Ich muss nun ersteinmal zur Ruhe kommen, schluchzte die Poesie. Neue Kräfte sammeln. Das geht am besten in der Bücherei.

Ohne Zögern trug der Bürgermeister persönlich die geschwächte Poesie in die Bücherei und legte sie auf das Sofa. Euphoria kochte sofort einen starken Kaffee, stellte auch ein Stamperl Hagebuttenschnaps und Wurstbrote dazu – doch die Poesie winkte nur müde ab, schloss die Augen, lies den Kopf in die bunten Polster sinken und schlief ein.

Tage später schlief sie noch immer. Sie schlief während der Öffnungszeiten, wenn Besucherinnen und Besucher rücksichtsvoll so lautlos wie möglich um sie herumschlichen. Sie schlief, wenn Euphoria oder die anderen Mitarbeiterinnen über der Büroarbeit saßen oder katalogisierten und rücksortierten. Die Poesie schlief so tief, dass nach einer Woche der Kirchstettner Arzt gerufen wurde, um festzustellen, ob es sich um normalen Schlaf handelte oder schon um eine Art Koma.

Der Arzt untersuchte die leise schnarchende Poesie, die dabei zwar kurz murrte, die Augen jedoch geschlossen hielt.

Alles soweit in Ordnung, stellte der Arzt beruhigt fest. Herzschlag und Puls normal, Blutdruck unauffällig, Atem gleichmäßig. Ein ganz gewöhnlicher, wenn auch sehr tiefer Schlaf, würde ich sagen.

Aber das kann doch nicht sein, grübelte Euphoria. So lange…

Sie wird vermutlich in ihrem Leben sehr oft Dornröschen gelesen haben, wandte der Arzt ein.

Aber wir müssen doch jetzt wohl nicht auf einen lahmen Prinzen warten, der sie wachküsst??

Euphoria bekam Panik: Wir haben einen dringenden Fall aufzuklären! Wir können nicht warten, schon gar nicht auf so einen dahergelaufenen Jüngling, von dem keiner weiß, wie zuverlässig er überhaupt gut küssen kann…!

Keine Sorge, sagte der Arzt, ich habe da eine Idee.

Und damit verabschiedete er sich.

Euphoria blieb neben der noch immer schnarchenden Poesie zurück und wirkte jetzt, was nur sehr selten vorkam, mutlos. Ein scheinbar Irrer bedrohte die Bücherei. Massenhaft Buchseiten wurden lieblos am Bauhof entsorgt. Und nun hatte die Poesie nicht nur die Nerven weggeschmissen, sondern war auch noch in einen Dornröschenschlaf gefallen. Das war einfach zu viel!

Euphoria quetschte sich neben die Poesie auf das Sofa, stürzte das letzte Stamperl Hagebuttenschnaps hinunter, das sie noch am Nachmittag, wie schon fast zur Routine geworden war, für die Poesie bereitgestellt hatte, falls diese doch kurz erwachen sollte – und fiel auf der Stelle ebenfalls in einen tiefen, bisher nicht gekannten Schlaf.

10. Kapitel

Die Poesie fischte ein zusammengeknülltes Stück Papier aus dem Container und faltete es auf. Es war eine Seite aus einem Buch.

Jane Austen, rief sie empört.

Sie fischte eine weiteren Papierball heraus und faltete ihn auf: Margaret Atwood!

Einen dritten Ball wagte die Poesie noch zu öffnen und strich die Buchseite glatt, so gut es ging: Heinrich Böll.

Puh, seufzte die Poesie, nur halb erleichtert. Zumindest nicht nur Frauen…aber eine sagenhafte Unverschämtheit ist es allemal!

Ich eile in die Bücherei und finde heraus, ob die Seiten dort fehlen, rief Euphoria und ließ nur eine Staubwolke zurück.

Die Poesie machte sich derweil, gemeinsam mit dem Bürgermeister und den Mitarbeitern des Bauhofes, ans Aufräumen. Nicht nur der Altpapiercontainer war randvoll. Auch rings um ihn herum lagen zerknüllte Buchseiten.

Anfangs noch voller Eifer, begann die Poesie bald leise, und dann immer lauter zu schluchzen.

Die Männer hielten inne und wirkten ratlos. Eine schluchzende Poesie – das hatten sie bis jetzt nicht erlebt. Die Poesie, die schon lange in Kirchstetten lebte, war stets schlagfertig, voller Humor, Tatkraft und meist mit einem Lächeln um die Mundwinkel anzutreffen gewesen. Auch wenn es ernste Dinge zu besprechen gegeben hatte – und dazu hatte der Kirchstettner Bürgermeister regelmäßig die Poesie zu Rate gezogen. Man befand sich immerhin in einer Dichtergemeinde. W. H. Auden hatte hier gelebt. Die Poesie zählte hier zu den wichtigsten und einflussreichsten Instanzen und hatte es bisher immer verstanden, Krisen innovativ und mit einer gewissen Portion Schmäh zu lösen. Aber nun! Schluchzte sie! Sank zu Boden und begann, jämmerlich, zu weinen!

Aber was ist denn, stotterte der Bürgermeister. Wie können wir –

Die Poesie winkte ab: Ach, schluchzte sie. Es ist einfach zu viel. Ich halte was aus, ich bin nicht zimperlich und alles andere als zart besaitet – aber DAS HIER…

In diesem Moment läutete das Telefon des Bürgermeisters. Er hob ab und seine Gesichtszüge erhellten sich sofort.

Alles klar, danke, sagte er und legte auf.

Gute Nachrichten, wandte er sich nun in die Runde. Die Buchseiten stammen nicht aus unserer Bücherei!

Die Poesie richtete sich kurz auf, dachte einen kurzen Moment nach, weinte dann aber sofort weiter und winkte noch einmal ab.

Trotzdem, schluchzte sie. Dieser – ach, nein, lassen wir das. Es ist einfach FÜRCHTERLICH!

Und damit sank die Poesie wieder in sich zusammen und weinte bitterlich.

Der Bürgermeister und die Bauhofmitarbeiter machten ernste Gesichter. Sie hatten nun gleich zwei gröbere Probleme: Einen Unbekannten, der Kirchstettens Bücherei und mittlerweile auch den Bauhof terrorisierte. Und die Tatsache, dass die Poesie, Kirchstettens bisher stärkstes Glied – anscheinend die Nerven wegschmiss.

9. Kapitel

Mit einer routinierten Bewegung warf die Poesie ihren Bleistift gezielt gegen den Rauchmelder und schaltete den ohrenbetäubenden Pfeifton so aus. Doch der Bürgermeister, der in seinem nicht weit entfernt gelegenen Büro noch über einigen Akten gebrütet hatte, stand, von dem nicht zu überhörenden Alarm angelockt, bereits in der Büchereitür.

Bitte lesen, sagte die Poesie, bevor er etwas sagen konnte, und hielt ihm den Zettel unter die Nase.

Großinvestor sucht zentral gelegene Räumlichkeiten für private Zwecke – bevorzugt überflüssige öffentliche Bibliotheken (mal ehrlich, diese Staubfänger unter den öffentlichen Einrichtungen werfen ja doch nichts ab und sind wohl eher zur Dekoration).

Ich zahle ausgesprochen gut und werde Ihrer Gemeinde keinen Ärger machen!

Sprechen wir darüber! 0043-671-345678

Hat der sich bei Dir schon gemeldet? Fragte die Poesie.

Nein, sagte der Bürgermeister, aber wir können ihn ja gleich anrufen und ihm mitteilen, dass er in Kirchstetten falsch ist!

Der Bürgermeister, der ein großer Freund öffentlicher Büchereien war, zückte sein Telefon und wählte die Nummer.

Nicht vergeben! Rief er nach wenigen Augenblicken.

Aha, sagte die Poesie. Ich hatte es mir fast gedacht – er will uns nur provozieren.

Keine Sorge, erwiderte der Bürgermeister, der kann uns nichts. Unsere Bücherei bleibt, und wenn jemand glaubt, Ärger machen zu müssen, dann soll er das tun, bis es ihm fad wird.

Ich fürchte, dem wird es nicht so schnell fad, grübelte die Poesie.

Kassandra warf ein: Ich kenne solche Typen. Der wird nicht locker lassen, bevor Troja niedergerbannt ist!

Wir sollten auf Kassandras Wort hören, bestätigte die Poesie. Wie ich den Täter mittlerweile einschätze, wird der „Ärger“, den er macht, eher zunehmen und größer werden.

Die Poesie hatte den Satz kaum beendet, da klingelte das Telefon des Bürgermeisters.

Wie bitte? Rief er, nachdem die Stimme am anderen Ende den ersten Satz gesagt hatte. Wir kommen!! Und damit legte er auf.

Am Bauhof hat jemand illegal den Altpapiercontainer zum Überlaufen gebracht, stotterte der nun sichtlich beunruhigte Bürgermeister. Was glaubt ihr, womit wohl?!!?

8. Kapitel

Jetzt will er es wissen! Rief die Poesie. Von jetzt an muss ich meine Ermittlungen intensivieren.

Büchereileiterin Euphoria fotografierte die buchstäbliche Schweinerei zur Dokumentation und für Beweiszwecke, dann gingen die Bibliothekarinnen ans Werk und säuberten ihre Bücherei, damit die lesehungrigen Besucherinnen und Besucher am folgenden Tag nicht auch noch von den Untaten des unbekannten Unholdes beeinträchtigt wurden.

Erschöpft gingen die Damen dann gegen Mitternacht nach Hause. Die Bücherei strahlte wieder in gewohntem Glanz. Die Poesie blieb und richtete sich auf dem Sofa ein Lager für die Nacht.

Und wenn ich hier drin alt werde, sagte sie, wir werden jetzt nicht mehr locker lassen, nichts soll uns mehr entgehen. Wir werden dem Halunken auf die Spur kommen!

Die Nacht verging ohne besondere Vorkommnisse. Die Poesie tat jedoch kein Auge zu. Sie lauerte und lauschte auf jedes Geräusch, doch nichts geschah. Im Morgengrauen hörte sie die Damen des Bürgerservice das Gemeindeamt betreten, dem die Bücherei angeschlossen war.

Nun wird er sich ohnehin nicht mehr trauen, dachte die Poesie und richtete sich auf.

Wichtig war es nun, Klarheit zu gewinnen, um ganz gezielt weiter ermitteln zu können.

Die Poesie erstellte mit ihrem Bleistift folgende Liste:

Gesucht wird ein Mann, mittelgroß, eher leicht übergewichtig, der

– Zigarren schätzt

– Fingerfarbe liebt

– die Farbe Rot bevorzugt

– Handschrift: eher krakelig/unbeholfen/kantig/ohne den gewissen Schwung

– dem Alkohol nicht abgeneigt ist (Stichwort: Flachmann)

– nah am Wasser gebaut ist oder tatsächlichen Kummer (welcher Art?) hat (Stichwort: benutztes Taschentuch)

– großes Talent hat, sich umbemerkt an- und wieder davonzuschleichen

– also eher feige ist (schwere Komplexe nicht auszuschließen)

– trotz allem halbwegs gerne zu lesen scheint

– evtl. einen engeren Bezug zum ehemaligen Westberlin oder dem Mauerfall 1989 hat (Stichwort: Herr Lehmann)

– einen weiteren Bezug zum ALT WIEN KAFFEE hat

– geschichtlich interessiert ist (Stichwort: römisches Reich)

– eher pessimistisch veranlagt ist

einen Zugang zu frischem Schweinsbraten hat oder diesen selbst gerne schmort

– scheinbar irgendeinen Frust auf die Bücherei Kirchstetten schiebt

Ergänzungen und Hinweise bitte jederzeit an die Poesie oder die Mitarbeiterinnen der Bücherei!

Die Poesie kopierte die Liste und machte sich sofort auf den Weg, sie in ganz Kirchstetten samt aller Katastralgemeinden auszuhängen. Da die Katastralgemeinden zahlreich waren, dauerte dieses Unterfangen bis zum Abend.

Erschöpft kehrte die Poesie in die Bücherei zurück. Euphoria war dort noch mit letzten Büroarbeiten und Rücksortierungen beschäftigt. Sie meldete, der Tag sei ruhig verlaufen. Besucherinnen und Besucher seien wie immer zahlreich gewesen, allesamt aber freundlich und unauffällig.

Doch der Tag sollte nicht ruhig zu Ende gehen. Euphoria war gerade gegangen und die Poesie war schon dabei, sich das Lager für die nächste Nacht herzurichten, als es an die Scheibe klopfte. Kassandra, die Besitzerin des Kirchstettner Nahversorgers wedelte draußen mit einem Blatt Papier. Die Poesie öffnete ihr die Tür.

Eure Liste war ruckzuck verschwunden, rief Kassandra. Ich habe es nicht sofort bemerkt. Aber stattdessen hing nun dieser Zettel an meiner Pinnwand. Ich dachte, er könnte von Interesse für die weiteren Ermittlungen sein. Wenn man mich fragt: Ich sehe nichts Gutes auf Kirchstetten zukommen…

Die Poesie nahm den Zettel entgegen und schaute darauf.

Ich glaube, mein Schwein pfeift, sagte sie.

Und wie zur Bestätigung begann der Bleistift der Poesie so derart stark zu glühen, dass Rauch aus seiner Spitze drang und die Bücherei im Nu völlig eingenebelt war. Der Rauchmelder sprang an und gab seinen unerträglich hohen Pfeifton von sich.

7. Kapitel

Die Poesie goss den beiden blass gewordenen Kellnern des ALT WIEN ersteinmal je ein Stamperl Hagebuttenschnaps ein. Dann zückte sie ihren Bleistift und ließ die beiden rasten und sich von ihrem Schreck erholen. Die Bibliothekarinnen aus Kirchstetten übernahmen unterdessen, flexibel, wie sie waren, kurzerhand Bar- und Servicebetrieb, denn das Mittagsgeschäft war ja noch immer in vollem Gange.

Die Poesie ging zielstrebig zur Herrentoilette und untersuchte mit ihrem Bleistift erneut per Kratzprobe die Schrift auf dem Spiegel.

Wusste ich es doch, murmelte sie. Definitiv kein Lippenstift – wäre auf der Herrentoilette ja auch noch verwunderlicher, als es eh schon ist.

Die Poesie kehrte zurück zu den Kellnern, die langsam wieder Farbe in die Gesichter bekamen und vernehmungsfähig schienen.

Was hat es mit diesem Schmierfink auf sich? Er hat übrigens mit roter Fingerfarbe gearbeitet. Kam das öfter vor?

Eine Zeitlang täglich, gab der eine Kellner mit noch immer leicht zitternder Stimme an.

Er hat uns fast in den Wahnsinn getrieben, rief der andere. Täglich hinterließ er einen Spruch, irgendwo im Lokal, manchmal auch auf den Fensterscheiben. Schräge Sprüche waren das…und nie hat ihn jemand zu Gesicht bekommen! Obwohl die Sprüche immer während der Öffnungszeiten auftauchten, bei vollem Betrieb! Er hat hier täglich für Aufruhr gesorgt.

Habt ihr die Sprüche notiert? Fragte die Poesie.

Nein. Wir waren immer sehr bedacht darauf, sie schnell verschwinden zu lassen. Aber ich weiß noch, dass ich mit keinem Spruch wirklich etwas anfangen konnte. Meinte der eine Kellner.

Der andere warf ein: Ja, oder was soll man davon halten: Wien ist nicht Venedig, geht aber trotzdem unter. Oder: Aller guten Dinge sind Brei. Oder: Die Kruste wird im Allgemeinen überbewertet.

Die Poesie schrieb mit. Beim letzten Spruch hielt sie inne: Das ist doch schon wieder aus „Herr Lehmann“, rief sie, und sie schien wenig überrascht.

Und euch ist wirklich nie jemand aufgefallen? Der düstere Bernhard-Leser am Fenster, kann der damit zu tun haben?

Die Kellner dachten angestrengt nach.

Vielleicht, stammelte der eine, vielleicht auch nicht. Da war der ja immer, und er schien am wenigsten gerührt von den Sprüchen, während alle anderen Gäste sich meist bogen vor Lachen, zu Grübeln begannen oder entsetzt das Lokal verließen, wenn ein neuer Spruch wie aus dem Nichts auftauchte. Aber wir schrieben das immer seinem allgemein ungusteligen, abweisenden Wesen zu…

Ok, Jungs, sagte die Poesie. Ich werde wiederkommen und hier weiter ermitteln. Wenn ihr jetzt wieder fit seit, würde ich euch aber bitten, mir die Mädels aus Kirchstetten wieder abzulösen. Wir müssen dringen zurück. Ich habe so ein komisches Bauchgefühl…

Wenig später saßen die Bibliothekarinnen und die Poesie wieder im Zug nach Kirchstetten. Die Poesie schien schweigsam. Sie wackelte etwas nervös mit ihrem Bleistift, der tatsächlich an der Spitze leicht glühte.

In Kirchstetten angekomnen, sagte sie: Bevor wir alle nach Hause gehen, schauen wir nochmal kurz in die Bücherei, nur zur Sicherheit…

Der Betriebsausflug war bis hierhin schon außergewöhnlich und aufregend gewesen. Sein Ende aber übertraf alles, was man an einem einzigen Tag erwarten konnte. Als Leiterin Euphoria die Büchereitür aufsperrte und die Bibliothekarinnen samt Poesie eintraten, blieben ihnen reihum die Münder offen stehen und es herrschte, was selten unter ihnen vorkam, betretenes Schweigen: Auf der Ausleihe lag der Stapel an Büchern über den Untergang des römischen Reiches, die unlängst verschwunden waren. Zuoberst stand eine Servierplatte mit Resten eines Schweinebratens, Soße und einem Messer. Der Braten selbst hing, in grobe Scheiben geschnitten, an dem großén Ast über dem Sofa, der ansonsten mit zur Jahreszeit passender, filigraner Papierdeko geschmückt war. Hier und da tropfte noch Fett und Soße herunter. Auf der Tischplatte beim Sofa stand mit roter Fingerfarbe, teilweise mit Soße und Fett verschmiert, geschrieben: Man kann auch an zu viel Braten/Büchern zu Grunde gehen. Siehe Rom.

6. Kapitel

Betriebsausflug!

Die Büchereimitarbeiterinnen trauten reihum ihren Augen nicht, als sie dieses Wort in einer Eilnachricht von Büchereileiterin Euphoria auf ihren Smartphones lasen. Lange hatten sie einen solchen schon unternehmen wollen, nie war Zeit gewesen, immer hatte es dringendere Angelegenheiten gegeben. Nun hatte die Poesie zur Eile gemahnt: Ein Ausflug ins ALT WIEN, oder, besser gesagt, eine Recherchereise zur Unterstützung der laufenden Ermittlungen sei ratsam, meinte sie. Bestenfalls gemeinsam, denn 10 Augenpaare würden mehr sehen und 10 Ohrenpaare mehr hören als nur eines oder zwei.

Das ließen die Damen sich nun nicht zweimal sagen. Tags darauf saßen sie im Zug von Kirchstetten nach Wien. Die Poesie hatte Kaffee in einer Thermoskanne und genügend Becher mit. Sie schenkte eifrig aus. Dabei wurde die Vorgehensweise in Wien besprochen.

Wir werden ganz normale Gäste sein, sagte die Poesie. Wir bestellen Schnitzel und Bier oder was immer man in Wien so zu Mittag zu sich nimmt. Jedenfalls werden wir verweilen. Ganz gemütlich. Mich kennen die Kellner, ich werde mich ein wenig zu ihnen gesellen und mich mit ihnen unterhalten, während ihr euch im Lokal umschaut und umhört. Jede Kleinigkeit, die euch auffällt, kann wichtig sein.

Und so betraten die Bibliothekarinnen aus Kirchstetten an diesem scheinbar ganz normalen Tag gegen 11:30 Uhr frohgemut und zu allen Taten bereit das ALT WIEN, nahmen am größten Tisch Platz und begannen, neben der Speisekarte so unauffällig wie möglich auch ihr Umfeld zu inspizieren.

Die Poesie unterdessen stellte sich an die Bar, wo sie schon so manch inspirierende Stunde verbracht hatte.

Ach, riefen die beiden anwesenden Kellner, du mal wieder, lange nicht gesehen!

Die Poesie verfiel mit den Kellnern in eine kurze, nette Plauderei, kam dann aber schnell zum Punkt: Der Kerl, der hier immer neben der Tür am Fenster saß, Thomas Bernhard las und dabei bösartig in die Welt schaute – kommt der noch? Wisst ihr, wer das ist?

Die Kellner schienen sofort zu wissen, von wem die Poesie sprach. Fast einstimmig riefen sie: Der! Der war lange nicht da!

Beide schienen über diese Tatsache nicht unglücklich, ja sogar erleichtert.

Keine Ahnung, wer das ist, fuhr dann einer der Kellner fort. Aber zuletzt hat er nicht mehr Bernhard gelesen. Zuletzt ließ er einen Gedichtband auf dem Tisch zurück. Hier, wir haben ihn noch in der Fundsachenkiste.

Der Kellner wühlte hinter dem Tresen herum und fand schließlich, was er gesucht hatte.

Die Poesie verschluckte sich an ihrem Mocca – der Kellner streckte ihr ein abgegriffenes, blaues Buch entgegen: W. H. Audens „Kirchstettner Gedichte“.

Die Poesie hatte sich so heftig verschluckt, dass beide Kellner ihr nun den Rücken klopfen und sie stützen mussten. Auch die Bibliothekarinnen sprangen auf und eilten gesammelt herbei. Als der Hustenanfall vorüber war und die Poesie wieder einigermaßen Luft bekam, keuchte sie: Ich habe es geahnt. Wir sind auf der richtigen Spur, aber –

und hier wurde sie von einer der Bibliothekarinnen unterbrochen. Diese warf leise und vorsichtig ein: Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber während wir aßen, sagte ein junger Student am Nebentisch zu seinem Kumpel, auf der Herrentoilette habe jemand mit Lippenstift einen „coolen“ Spruch auf den Spiegel geschrieben: Wir sind hier nicht in NÖ, mein Schatz.

Nun fiel dem einen Kellner das Glas, das er gerade auf ein Tablett hatte heben wollen, dem anderen das Portemonnaie, in dem er gerade nach Wechselgeld gewühlt hatte, aus der Hand. Es klirrte und schepperte.

Der Schmierfink war wieder da! Riefen sie, wieder fast einstimmig – dieses Mal mit dem blanken Entsetzen in der Stimme.

Und scheinbar hatte wieder niemand das Kommen oder Gehen dieses sonderbaren „Schmierfinks“ bemerkt.

5. Kapitel

Psssst, sagte die Poesie und presste ihr Ohr an die Büchereitür. Wenn noch jemand drin ist, wird er sich nun bewegen, sich zusammenpacken, einen Fluchtweg suchen.

Aber nichts. Kein Mucks war zu hören. Die Poesie, Euphoria und die Büchereimitarbeiterin harrten minutenlang regungslos vor der Tür aus, bis die Poesie schließlich abwinkte und meinte: Wer auch immer da drin war, er oder sie ist über alle Berge.

Euphoria sperrte die Tür auf. Bis auf das Sofa, neben dem tatsächlich das völlig zerfledderte Exemplar von Sven Regeners „Herr Lehmann“ lag, schien alles auf den ersten Blick unberührt. Euphoria stürmte hinter die Ausleihe und überprüfte die Schubladen und Kästen, vor allem natürlich den Kasten, in dem sich die Kassa befand.

Alles da, sagte sie schließlich, nicht ohne Überraschung in der Stimme. Alles ordnungsgemäß verschlossen. Vermutlich hat nicht einmal jemand versucht, sie zu öffnen.

Die Poesie untersuchte derweil das Sofa. Mit ihrem Bleistift zeichnete sie eine Skizze der Knautschspuren auf Sitzfläche und Polstern.

Wenn ich es mir genau anschaue, grübelte sie laut, dann würde ich sagen, dass hier ein mittelgroßer, aber nicht gerade leichtgewichtiger Mensch gelegen haben muss. Vermutlich trug er oder sie eine Haube oder eine andere Kopfbedeckung, denn es ist kein Haar zu finden. Und vermutlich hat er oder sie geweint!

Die Damen starrten die Poesie an.

Die Poesie hob ihren Bleistift in die Höhe. Auf der Spitze hing ein zerknülltes Taschentuch.

Das lag auf dem Boden unter dem Sofa, sagte sie. Und: Es ist definitiv kein Rotz darin zu finden, es ist aber feucht. Kombiniere: Es handelt sich um Tränen.

Ein weinender Einbrecher, der verschollene Bücher zerfleddert wiederbringt, hier übernachtet und dann am Morgen wie vom Erdboden verschluckt ist? Fragte Euphoria ungläubig.

Die Poesie wendete sich dem aus der Form geratenen „Herr Lehmann“ zu. Sie blätterte sorgfältig darin, steckte ihre Nase lange zwischen alle Seiten. Es dauerte, bis sie damit fertig war. Dann, wie um noch einmal sicher zu gehen, schüttelte sie das Buch, die Seiten nach unten, wie einen Wischmob aus.

Vermutlich hat er oder sie das Buch mehrmals ganz und sehr genau gelesen, stellte sie fest. Er oder sie dürfte kein Lesezeichen gebraucht, sondern jeweils wahnhaft in einem Zug durchgelesen haben. Und er oder sie schien uns über das Buch etwas mitteilen zu wollen. Denn es gibt eine Stelle darin, die fett unterstrichen wurde: Ich habe überhaupt keine Ahnung, wann das anfing mit der ganzen Scheiße. Das ist das Komische daran. Das ist wie mit dem Untergang des römischen Reiches, da weiß auch keiner, wann das eigentlich anfing.“

Euphoria und ihre Mitarbeiterin schalteten schnell. Ruckzuck war im Onlinekatalog herausgesucht, welche Bücher im Bestand sich mit dem Untergang des römischen Reiches befassten. Und ruckzuck war überprüft: Sämtliche dieser Bücher fehlten! Sogar die aus der Kinderabteilung. Und dort, zwischen den WAS-IST-WAS-Büchern, hatte der oder die Täter/in noch etwas hinterlassen: Eine leere Packung Zündhölzer aus dem guten, alten, im 1. Wiener Bezirk gelegenen KAFFEE ALT WIEN.

Der Poesie fiel der Bleistift aus der Hand.

Da kannte ich mal einen, murmelte sie mit weit aufgerissenen Augen. Ich hoffe, wir haben es hier nicht mit diesem Kerl zu tun.

Sie hob ihren Blesitift auf und hielt ihn nun wie ein Messer, die Spitze nach vorn.

Wir sollten uns warm anziehen, sagte die Poesie. Es könnte definitiv richtig ungemütlich werden.

4. Kapitel

Die Befragungen ergaben nichts. Niemand hatte in dieser Nacht rund um die Bücherei etwas gesehen, zumal alle damit beschäftigt gewesen waren, Silvester zu feiern. In einer Silvesternacht geht man in den seltenstens Fällen zur Bücherei.
Auch die Nachbarn aus den umliegenden Häusern konnten von keinerlei Auffälligkeiten berichten. Der Zeitpunkt, an dem der oder die Täterin die Scheibe beschriftet und die Zigarre geraucht hatte, sich also vor der Bücherei aufgehalten haben musste, war in den ganz frühen Morgenstunden zu verorten – da hatten alle geschlafen. Büchereileiterin Euphoria, ihresgleichen Frühaufsteherin und Arbeitstier, die sich nichts aus Silvester machte, war gegen 5:30 Uhr zur Bücherei spaziert, um liegengebliebene Büroarbeiten zu erledigen, und hatte den Schriftzug als erste entdeckt. Da war schon niemand mehr zu sehen gewesen.

Einige Wochen geschah nichts. Obgleich der Kopf der Poesie weiterhin rauchte, weil sie Antworten finden wollte, wie es ihrem Wesen entspricht, und auch wenn ihr Bleistift immer wieder leicht zu glühen begann, geriet der Vorfall in Kirchstetten langsam in Vergessenheit.
Doch der Bleistift der Poesie glühte in all diesen Wochen nicht ohne Grund immer wieder auf.

Eines Sonntagmorgens wurde Büchereileiterin Euphoria vom Klingeln ihres Telefons bei der Lektüre von Susan Sontags „Against Interpretation“ unterbrochen. Die Büchereimitarbeiterin, die an diesem Sonntag Dienst hatte, schrie aufgelöst aus dem Hörer: Das glaubst du nicht! Hier ist, ich meine, hier war, also, vielleicht ist hier noch – huaaah –
und damit brach sie ab, Schritte und eine Tür, die ins Schloss fiel, waren zu hören, dann wieder die keuchende, zittrige Stimme der Büchereimitarbeiterin: Ich bin jetzt draußen und habe von außen zugesperrt. Du musst kommen und auch die Poesie informieren. In der Bücherei lag auf dem Tisch beim Sofa das abgängige Buch, „Herr Lehmann“, total zerfleddert. Und auf dem Sofa waren eindeutig Abdrücke, auch die Polster waren zerknautscht – als hätte dort jemand geschlafen!

Beweg dich nicht von der Stelle, rief Euphoria, und lass die Tür zugesperrt. Ich komme. Und ich bringe die Poesie mit.

3. Kapitel

Der Bleistift der Poesie begann zu glühen, sobald die Poesie den letzten Satz beendet hatte.

Ein eindeutiges Zeichen, dass hier noch mehr im Busch ist, sagte die Poesie.

Sie hob den Zigarrenstummel auf. Er war bereits erkaltet, aber noch nicht allzu weit heruntergeraucht, sodass das Etikett noch in Teilen vorhanden war. Die Marke war zu erkennen: Herr Lehmann.

Keine sehr häufig gerauchte Marke, eher etwas für Spezialisten, sagte die Poesie.

Sie bat Büchereileiterin Euphoria, auf der Stelle in der Belletristik unter dem Buchstaben R nachzusehen. Euphoria huschte in die Bücherei hinein und sah mit geschultem Blick sofort: Hier fehlte ein Buch! Es war ungeschickt versucht worden, die Lücke zu schließen, doch Euphoria kannte jeden Buchrücken in ihrer Bücherei genau. Wenn ein Buch nicht an seinem Platz war, fiel ihr das auf.

Hastig schaltete sie den Rechner ein, um herauszufinden, ob das Buch vielleicht doch einfach verborgt worden war und sie sich nicht mehr daran erinnerte. Doch der Online-Katalog konnte nicht lügen: Das Buch war als im Bestand verfügbar verzeichnet. Niemand hatte es offiziell entliehen. Das konnte also nur eines heißen…

Jetzt ist Schluss mit lustig, sagte die Poesie und zog ein Plastiktütchen aus ihrem Sondereinsatzkommandokoffer, in das sie den Zigarrenstummel plumpsen ließ, um ihn luftdicht aufzubewahren. Dann kontrollierte sie das Türschloss der Bücherei.

Keine Einbruchspuren, stellte sie fest. Nicht einmal ein Kratzer. Das heißt, der Täter oder die Tärerin muss einen Schlüssel gehabt haben – oder auf andere, bisher noch nicht nachvollziehbare Weise, in die Bücherei gekommen sein. Oder war hier doch eine der Büchereimitarbeiterinnen mit verwickelt?

Das kann ich mir nicht vorstellen, rief Euphoria. Die rauchen doch keine Zigarren! Und außerdem hätten diese sich doch jedes Buch ganz normal über den Scanner selbst entlehnen können, anstatt es einfach mitgehen zu lassen.

Die Poesie kroch unterdessen schon am Boden herum und untersuchte alle Winkel, um mögliche weitere Spuren zu finden. Die Mühe war nicht umsonst. In einem Winkel im hinteren Teil der Bücherei fand die Poesie einen kleinen Schraubdeckel aus Edelstahl.

Der Größe und der Form nach könnte er zu einem Flachmann gehören, meinte die Poesie.

Wer um alles in der Welt also trank im hintersten Winkel der Bücherei Kirchstetten aus einem Flachmann und vergaß den Verschluss, stahl dann Sven Regeners West-Berliner Wendezeit-Roman „Herr Lehmann“, beschmierte anschließend das Schaufenster mit Fingerfarbe und rauchte zum Abschluss noch eine Zigarre passender Marke? Wie war diese Person überhaupt in die Bücherei hineingekommen? Und vor allem: WARUM das alles?

Die Poesie hängte sich ans Telefon und riss nun der Reihe nach sämtliche Büchereimitarbeiterinnen, den Bürgermeister und alle anderen Gemeindebediensteten aus dem Bett. Neues Jahr hin oder her, alle mussten nun befragt werden. Der oder die Täterin würde mit dem einen Roman nicht lange beschäftigt sein. Er oder sie plante möglicherweise schon in diesem Moment weitere Aktionen. „Herr Lehmann“ endete schließlich mit dem Fall der Berliner Mauer –

Und danach, sagte die Poesie, blieb, wie wir alle wissen, nicht nur für Frank Lehmann, sondern auch in Wirklichkeit für die ganze Welt nichts mehr, wie es war…