Die Poesie fischte ein zusammengeknülltes Stück Papier aus dem Container und faltete es auf. Es war eine Seite aus einem Buch.

Jane Austen, rief sie empört.

Sie fischte eine weiteren Papierball heraus und faltete ihn auf: Margaret Atwood!

Einen dritten Ball wagte die Poesie noch zu öffnen und strich die Buchseite glatt, so gut es ging: Heinrich Böll.

Puh, seufzte die Poesie, nur halb erleichtert. Zumindest nicht nur Frauen…aber eine sagenhafte Unverschämtheit ist es allemal!

Ich eile in die Bücherei und finde heraus, ob die Seiten dort fehlen, rief Euphoria und ließ nur eine Staubwolke zurück.

Die Poesie machte sich derweil, gemeinsam mit dem Bürgermeister und den Mitarbeitern des Bauhofes, ans Aufräumen. Nicht nur der Altpapiercontainer war randvoll. Auch rings um ihn herum lagen zerknüllte Buchseiten.

Anfangs noch voller Eifer, begann die Poesie bald leise, und dann immer lauter zu schluchzen.

Die Männer hielten inne und wirkten ratlos. Eine schluchzende Poesie – das hatten sie bis jetzt nicht erlebt. Die Poesie, die schon lange in Kirchstetten lebte, war stets schlagfertig, voller Humor, Tatkraft und meist mit einem Lächeln um die Mundwinkel anzutreffen gewesen. Auch wenn es ernste Dinge zu besprechen gegeben hatte – und dazu hatte der Kirchstettner Bürgermeister regelmäßig die Poesie zu Rate gezogen. Man befand sich immerhin in einer Dichtergemeinde. W. H. Auden hatte hier gelebt. Die Poesie zählte hier zu den wichtigsten und einflussreichsten Instanzen und hatte es bisher immer verstanden, Krisen innovativ und mit einer gewissen Portion Schmäh zu lösen. Aber nun! Schluchzte sie! Sank zu Boden und begann, jämmerlich, zu weinen!

Aber was ist denn, stotterte der Bürgermeister. Wie können wir –

Die Poesie winkte ab: Ach, schluchzte sie. Es ist einfach zu viel. Ich halte was aus, ich bin nicht zimperlich und alles andere als zart besaitet – aber DAS HIER…

In diesem Moment läutete das Telefon des Bürgermeisters. Er hob ab und seine Gesichtszüge erhellten sich sofort.

Alles klar, danke, sagte er und legte auf.

Gute Nachrichten, wandte er sich nun in die Runde. Die Buchseiten stammen nicht aus unserer Bücherei!

Die Poesie richtete sich kurz auf, dachte einen kurzen Moment nach, weinte dann aber sofort weiter und winkte noch einmal ab.

Trotzdem, schluchzte sie. Dieser – ach, nein, lassen wir das. Es ist einfach FÜRCHTERLICH!

Und damit sank die Poesie wieder in sich zusammen und weinte bitterlich.

Der Bürgermeister und die Bauhofmitarbeiter machten ernste Gesichter. Sie hatten nun gleich zwei gröbere Probleme: Einen Unbekannten, der Kirchstettens Bücherei und mittlerweile auch den Bauhof terrorisierte. Und die Tatsache, dass die Poesie, Kirchstettens bisher stärkstes Glied – anscheinend die Nerven wegschmiss.

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