Psssst, sagte die Poesie und presste ihr Ohr an die Büchereitür. Wenn noch jemand drin ist, wird er sich nun bewegen, sich zusammenpacken, einen Fluchtweg suchen.

Aber nichts. Kein Mucks war zu hören. Die Poesie, Euphoria und die Büchereimitarbeiterin harrten minutenlang regungslos vor der Tür aus, bis die Poesie schließlich abwinkte und meinte: Wer auch immer da drin war, er oder sie ist über alle Berge.

Euphoria sperrte die Tür auf. Bis auf das Sofa, neben dem tatsächlich das völlig zerfledderte Exemplar von Sven Regeners „Herr Lehmann“ lag, schien alles auf den ersten Blick unberührt. Euphoria stürmte hinter die Ausleihe und überprüfte die Schubladen und Kästen, vor allem natürlich den Kasten, in dem sich die Kassa befand.

Alles da, sagte sie schließlich, nicht ohne Überraschung in der Stimme. Alles ordnungsgemäß verschlossen. Vermutlich hat nicht einmal jemand versucht, sie zu öffnen.

Die Poesie untersuchte derweil das Sofa. Mit ihrem Bleistift zeichnete sie eine Skizze der Knautschspuren auf Sitzfläche und Polstern.

Wenn ich es mir genau anschaue, grübelte sie laut, dann würde ich sagen, dass hier ein mittelgroßer, aber nicht gerade leichtgewichtiger Mensch gelegen haben muss. Vermutlich trug er oder sie eine Haube oder eine andere Kopfbedeckung, denn es ist kein Haar zu finden. Und vermutlich hat er oder sie geweint!

Die Damen starrten die Poesie an.

Die Poesie hob ihren Bleistift in die Höhe. Auf der Spitze hing ein zerknülltes Taschentuch.

Das lag auf dem Boden unter dem Sofa, sagte sie. Und: Es ist definitiv kein Rotz darin zu finden, es ist aber feucht. Kombiniere: Es handelt sich um Tränen.

Ein weinender Einbrecher, der verschollene Bücher zerfleddert wiederbringt, hier übernachtet und dann am Morgen wie vom Erdboden verschluckt ist? Fragte Euphoria ungläubig.

Die Poesie wendete sich dem aus der Form geratenen „Herr Lehmann“ zu. Sie blätterte sorgfältig darin, steckte ihre Nase lange zwischen alle Seiten. Es dauerte, bis sie damit fertig war. Dann, wie um noch einmal sicher zu gehen, schüttelte sie das Buch, die Seiten nach unten, wie einen Wischmob aus.

Vermutlich hat er oder sie das Buch mehrmals ganz und sehr genau gelesen, stellte sie fest. Er oder sie dürfte kein Lesezeichen gebraucht, sondern jeweils wahnhaft in einem Zug durchgelesen haben. Und er oder sie schien uns über das Buch etwas mitteilen zu wollen. Denn es gibt eine Stelle darin, die fett unterstrichen wurde: Ich habe überhaupt keine Ahnung, wann das anfing mit der ganzen Scheiße. Das ist das Komische daran. Das ist wie mit dem Untergang des römischen Reiches, da weiß auch keiner, wann das eigentlich anfing.“

Euphoria und ihre Mitarbeiterin schalteten schnell. Ruckzuck war im Onlinekatalog herausgesucht, welche Bücher im Bestand sich mit dem Untergang des römischen Reiches befassten. Und ruckzuck war überprüft: Sämtliche dieser Bücher fehlten! Sogar die aus der Kinderabteilung. Und dort, zwischen den WAS-IST-WAS-Büchern, hatte der oder die Täter/in noch etwas hinterlassen: Eine leere Packung Zündhölzer aus dem guten, alten, im 1. Wiener Bezirk gelegenen KAFFEE ALT WIEN.

Der Poesie fiel der Bleistift aus der Hand.

Da kannte ich mal einen, murmelte sie mit weit aufgerissenen Augen. Ich hoffe, wir haben es hier nicht mit diesem Kerl zu tun.

Sie hob ihren Blesitift auf und hielt ihn nun wie ein Messer, die Spitze nach vorn.

Wir sollten uns warm anziehen, sagte die Poesie. Es könnte definitiv richtig ungemütlich werden.

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