Der Bleistift der Poesie begann zu glühen, sobald die Poesie den letzten Satz beendet hatte.

Ein eindeutiges Zeichen, dass hier noch mehr im Busch ist, sagte die Poesie.

Sie hob den Zigarrenstummel auf. Er war bereits erkaltet, aber noch nicht allzu weit heruntergeraucht, sodass das Etikett noch in Teilen vorhanden war. Die Marke war zu erkennen: Herr Lehmann.

Keine sehr häufig gerauchte Marke, eher etwas für Spezialisten, sagte die Poesie.

Sie bat Büchereileiterin Euphoria, auf der Stelle in der Belletristik unter dem Buchstaben R nachzusehen. Euphoria huschte in die Bücherei hinein und sah mit geschultem Blick sofort: Hier fehlte ein Buch! Es war ungeschickt versucht worden, die Lücke zu schließen, doch Euphoria kannte jeden Buchrücken in ihrer Bücherei genau. Wenn ein Buch nicht an seinem Platz war, fiel ihr das auf.

Hastig schaltete sie den Rechner ein, um herauszufinden, ob das Buch vielleicht doch einfach verborgt worden war und sie sich nicht mehr daran erinnerte. Doch der Online-Katalog konnte nicht lügen: Das Buch war als im Bestand verfügbar verzeichnet. Niemand hatte es offiziell entliehen. Das konnte also nur eines heißen…

Jetzt ist Schluss mit lustig, sagte die Poesie und zog ein Plastiktütchen aus ihrem Sondereinsatzkommandokoffer, in das sie den Zigarrenstummel plumpsen ließ, um ihn luftdicht aufzubewahren. Dann kontrollierte sie das Türschloss der Bücherei.

Keine Einbruchspuren, stellte sie fest. Nicht einmal ein Kratzer. Das heißt, der Täter oder die Tärerin muss einen Schlüssel gehabt haben – oder auf andere, bisher noch nicht nachvollziehbare Weise, in die Bücherei gekommen sein. Oder war hier doch eine der Büchereimitarbeiterinnen mit verwickelt?

Das kann ich mir nicht vorstellen, rief Euphoria. Die rauchen doch keine Zigarren! Und außerdem hätten diese sich doch jedes Buch ganz normal über den Scanner selbst entlehnen können, anstatt es einfach mitgehen zu lassen.

Die Poesie kroch unterdessen schon am Boden herum und untersuchte alle Winkel, um mögliche weitere Spuren zu finden. Die Mühe war nicht umsonst. In einem Winkel im hinteren Teil der Bücherei fand die Poesie einen kleinen Schraubdeckel aus Edelstahl.

Der Größe und der Form nach könnte er zu einem Flachmann gehören, meinte die Poesie.

Wer um alles in der Welt also trank im hintersten Winkel der Bücherei Kirchstetten aus einem Flachmann und vergaß den Verschluss, stahl dann Sven Regeners West-Berliner Wendezeit-Roman „Herr Lehmann“, beschmierte anschließend das Schaufenster mit Fingerfarbe und rauchte zum Abschluss noch eine Zigarre passender Marke? Wie war diese Person überhaupt in die Bücherei hineingekommen? Und vor allem: WARUM das alles?

Die Poesie hängte sich ans Telefon und riss nun der Reihe nach sämtliche Büchereimitarbeiterinnen, den Bürgermeister und alle anderen Gemeindebediensteten aus dem Bett. Neues Jahr hin oder her, alle mussten nun befragt werden. Der oder die Täterin würde mit dem einen Roman nicht lange beschäftigt sein. Er oder sie plante möglicherweise schon in diesem Moment weitere Aktionen. „Herr Lehmann“ endete schließlich mit dem Fall der Berliner Mauer –

Und danach, sagte die Poesie, blieb, wie wir alle wissen, nicht nur für Frank Lehmann, sondern auch in Wirklichkeit für die ganze Welt nichts mehr, wie es war…

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