Die Poesie hat Hilde Domin zum Kaffee eingeladen. Sie kommt, sie kann nicht mehr so gut gehen, sie verwendet eine Rose als Gehstock. Es funktioniert. Sie lächelt, als sie die Rose in die Ecke lehnt und sich zu uns setzt. Ich hoffe, sie bleibt lange da.

(Hilde Domin wäre heute 112 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt es in der Bücherei Kirchstetten heute Anleitungen zu borgen: Sich ein Zimmer einrichten in der Luft und verläßliche Tiere halten. Der Dank gilt Hilde Domin, dass sie uns das lebenslang Wort für Wort vorgemacht hat. Die Bücherei ist heute von 16 bis 19 Uhr geöffnet.)


Nur eine Rose als Stütze

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
unter den Akrobaten und Vögeln:
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind
auf der äußersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle
der sanftgescheitelten Schafe die
im Mondlicht
wie schimmernde Wolken
über die feste Erde ziehen.

Ich schließe die Augen und hülle mich ein
in das Vlies der verläßlichen Tiere.
Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schließt.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

(aus: Hilde Domin – Nur eine Rose als Stütze, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008, S. 55)

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