22. Kapitel

Ein langes Schweigen war eingetreten. Dieses Schweigen aber war, neben dem Bleistift, eines der wichtigsten Werkzeuge der Poesie. Auch innerhalb der laufenden Ermittlungen. Außerdem hatte die Poesie zwischenzeitlich noch einige einschlägige Neuerscheinungen und selbtverständlich Gedichte gelesen, einen Lehrgang für fortgeschrittene BibliothekarInnen besucht und mit dem Bildungsministerium telefoniert. Nun zückte die Poesie ihren Bleistift, ließ sich von Kassandra ein Blatt Papier reichen und sagte: Ich werde den Namen des Täters nicht aussprechen. Denn wenn er hört, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind, wird er flüchten. Ich will ihn aber einfangen und ihm endgültig das Handwerk legen. Das wird nur mit sehr viel Fingerspitzengefühl und List gelingen. Ich schreibe seinen Namen daher vorerst nur auf, damit wir wissen, wen wir suchen.

Und die Poesie schrieb…

21. Kapitel

Weiteres konnten Kassandra und die Poesie jedoch nicht besprechen, bevor sie folgende Worte von Anna Baar angehört hatten, und zwar nicht nur ein einziges Mal, sondern gleich mehrmals und so laut, dass ganz Kirchstetten und auch die umliegenden Ortschaften, bestenfalls das ganze Land und die Nachbarländer, noch besseren Falls sämtliche Nationen und Regionen der Welt mithören konnten:

https://bachmannpreis.orf.at/stories/3160840/

Danach schwiegen Kassandra und die Poesie noch eine Weile. Denn dem war vorerst nichts hinzuzufügen, jedenfalls kein lautes, kluges Wort, außer einem stillen, aber umfassenden: Danke.

Und dann konnte es weitergehen. Und zwar anders.

20. Kapitel

Jetzt wird es aber esoterisch, meinte Kassandra, die Chefin des örtlichen Nahversorgers, als die Poesie ihr von den jüngst wahrgenommenen, fast unhörbaren Seufzern in der menschenleeren Bücherei berichtete.

Mit Esoterik habe ich nichts am Hut, stellte die Poesie klar. Ich bin überzeugt, hier geht es nicht um Geister und nicht um böse Energien. Auch wenn der Strolch, der uns seit Monaten ärgert, unsichtbar ist, so ist er doch eine Tatsache. Und wir werden ihm auf die Schliche kommen.

Kann ich euch irgendwie behilflich sein, fragte Kassandra, die ihre gute alte Bekannte, die Poesie, sehr schätzte und ihr Esoterik im Grunde ihres Herzens nicht wirklich zugetraut hatte.

Ich denke schon, grübelte die Poesie. Mit deiner Sehkraft und den detektivischen Fähigkeiten der Bibliothekarinnen werden wir dem Wüterich bald das Handwerk legen. Ich habe nämlich mittlerweile eine sehr genaue Vermutung, wer er sein könnte. Es wird eng für ihn werden. Komm mit.

Und damit gingen die Poesie und Kassandra auf einen Kaffee ins Hinterzimmer des Nahversorgers, um alles Weitere zu besprechen.

19. Kapitel

Wochen vergingen. Die Bibliothekarinnen und die Poesie verborgten fleißig, was sie hatten, nahmen zurück, sortierten, berieten die Kundschaft, erweiterten stetig das Sortiment, katalogisierten, planten Lesungen, Vorträge, Workshops und Tauschbörsen und freuten sich regelmäßig über die zahlreichen neuen Besucherinnen und Besucher. Schlicht: Es war ein wenig, als wenn es nie eine Störung in diesem fröhlichen Büchereialltag gegeben hätte. Und tatsächich gab es auch vorerst keine weiteren Zwischenfälle, die dem aufdringlichen Unbekannten zuzuschreiben gewesen wären.

Die Poesie aber meinte: Das war zu erwarten. Er ist durchschaubar. Er wollte Aufmerksamkeit um jeden Preis. Da wir seinen letzten Streich quasi kaum gewürdigt haben, hat er sich nun beleidigt zurückgezogen. Aber so einfach werden wir ihn nicht davonkommen lassen. Selbst wenn es das jetzt war mit seinen Untaten, soll er uns gefälligst irgendwann erklären, was das alles sollte. Und deshalb ermittle ich weiter. Bis wir wissen, wer er ist.

Was nun oberflächlich aussah wie ein ganz normaler Büchereialltag, war in Wirklichkeit Detektivinnenarbeit erster Klasse. Den Bibliothekarinnen entging nichts. Die „normale“ Kundschaft verhielt sich größtenteils unauffällig und war des Verdachtes damit enthoben. Doch die Beobachtungen der Bibliothekarinnen gingen weit über das Verhalten der Kundschaft und die Ordnung der vorhandenen Medien hinaus. Und so fiel bald auf, dass besonders nach Tagen, an denen die Bücherei so richtig gut besucht gewesen war, ein leises, grantiges Seufzen zu vernehmen war. Fast unhörbar, und von den Bibliothekarinnen zuerst für einen Luftzug oder ein anderes wetterbedingtes Geräusch gehalten, fiel es immer öfter und immer deutlicher auf: Jemand seufzte! In der menschenleeren Bücherei, außerhalb der Öffnungszeiten!

Und dieses Seufzen klang, da waren die Damen sich einig, nicht ergeben. Es klang nach einem Seufzen, das vor allem eines enthielt: Blinde Wut.

18. Kapitel

Der Pflanzenmarkt der Bücherei war wie immer erfolgreich vorübergegangen. Die buchstäbliche Sauerei, die der Unbekannte noch vorher hinterlassen hatte, war jedoch nicht kleiner geworden. Wieder hatte er zum Schweinsbraten gegriffen. Vielmehr zum Bratensaft. Dieser war großzügig auf den Schaufenstern der Bücherei verteilt, war angetrocknet und begann bereits, unangenehm zu riechen.

Ich frage mich, was er immer mit seinem Schweinsbraten hat, sagte die Poesie spöttisch.

Und dieses Mal ist ihm nicht einmal eine Nachricht eingefallen, die er uns hinterlassen konnte, fügte Euphoria hinzu. Er lässt nach!

Sämtliche Büchereimitarbeiterinnen rückten an. Die Damen, noch immer voller Eifer und höchst ermutigt vom gerade so großartig organisierten und gut besuchten Pflanzenmarkt, hatten bereits sämtliches Putzzeug parat. Die Sauerei war ruckzuck beseitigt. Und so richtig geschockt schien keine mehr davon.

Es wird langweilig, Herr Unhold, rief die Poesie, und die Bibliothekarinnen kicherten zustimmend. Lassen Sie sich etwas Besseres einfallen, um uns zu ärgern! Wir jedenfalls haben anderes zu tun, als uns von Ihnen aus der Bahn werfen zu lassen. Zum Beispiel werden wir nun vor allem diese höchst erfolgreiche und florierende Bücherei weiter voranbringen!

Ob besagter Unhold das hören konnte oder nicht, es musste einmal gesagt sein.

Und damit wurde nun beschlossen, schlicht Ruhe zu bewahren und einfach weiterzumachen wie bisher. Den Taten des Störenfrieds sollte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich geschenkt werden.

Aber auch dahinter steckte, wie wohl zu ahnen ist, ein weiterer ausgeklügelter Plan, den die Poesie und die Bibliothekarinnen professionell bis ins Detail ausgearbeitet hatten.

17. Kapitel

Der Ärger des Unbekannten äußerte sich erneut überraschend und unerhört. Die Poesie war zwar nicht ungerührt, winkte jedoch schnell ab: Heute ist der legendäre, beliebte, unfassbar großartige Pflanzenmarkt der Bücherei Kirchstetten! Von 10 Uhr bis 16 Uhr beim Schloss Totzenbach. Mit Pflanzen zum Tauschen oder zum Kaufen. Und Kaffee und Kuchen. Wir wollen Dinge wachsen sehen! Da werden wir uns doch wohl von diesem Giftknilch nicht dazwischenfunken lassen…

Und mit diesen Worten zog die Poesie die Gartenhandschuhe an, setzte den Sonnenhut auf, schulterte den Spaten und ging.

Ich ermittle nächste Woche weiter, rief sie noch.

Sie hinterließ nur eine Blütenstaubwolke, die sich langsam auf die Sauerei legte, die der Unbekannte dieses Mal hinterlassen hatte. Aber dazu, wie die Poesie ja sagte: Nächste Woche mehr.

16. Kapitel

Eine gut funktionierende Software ist für eine moderne Bücherei essentiell, sagte die Poesie. Ohne Handbuch aber ist jedes noch so ausgeklügelte System nutzlos.

Die Poesie hing am Telefon und telefonierte mit der Softwarefirma.

Nicht mehr vorrätig sagen Sie? Die Poesie zwinkerte Euphoria nun verstohlen zu. Ja, was machen wir denn da? Wir waren doch so zufrieden mit Ihrem Produkt, und als langjährige Kundinnen…ah, was sagen Sie da? Eine neuere Version? Schneller? Kompakter? Dynamischer? Noch nicht auf dem Markt? Schade, da müssen wir uns wohl doch bei einer anderen Firma umschauen…Was? Achso, zum Testen, als Entschädigung, wäre das möglich? Kostenlos im ersten Jahr? Treuebonus? Das klingt ja schon anders. Ja, schicken Sie uns Ihren Techniker, der soll uns das installieren!

Die Poesie legte auf und schien zufrieden. Es dauerte nur wenige Tage, bis die Bücherei Kirchstetten mit einer komplett neuen Software ausgestattet war. Der Techniker wurde von den Bibliothekarinnen mit Kaffee, Kuchen und selbstgemachtem Likör versorgt und verriet ihnen nun kauend und schlürfend die geheimen Tricks dieser neuen Software, damit sie nicht lange im neuen Handbuch nachschlagen mussten. Alles in allem war das Ganze nun zeitsparend, einfach, und für den Bibliotheksalltag eine enorm hilfreiche Verbesserung.

Euphoria klatschte in die Hände vor Begeisterung und rührte gleich die Werbetrommel: Wir sind neu aufgestellt! Jetzt noch flotter, unkomplizierter, persönlicher und zuverlässiger! Kommt und stöbert! Der Technik sei ausnahmsweise einmal Dank!!

In den darauffolgenden Wochen war in der Bücherei mehr Betrieb denn je. Denn Recherche und Verleih waren durch das neue Programm nicht nur beschleunigt, sondern konnten auch verfeinert und kundenfreundlicher gestaltet werden. Es sprach sich schnell herum, dass der Service in der Bücherei nun doppelt unschlagbar war. Die Kirchstettnerinnen und Kirchstettner rannten den Bibliothekarinnen fast buchstäblich die Bude ein.

Das wird ihn ärgern, sagte die Poesie.

Und sie sollte recht behalten.

15. Kapitel

Das Entsetzen stand dem Mann noch ins Gesicht geschrieben, als die Poesie und ihre Kolleginnen die Garage betraten. In der linken Hand hielt er eine Art kleine, schmutzige Kugel. In der rechten Hand hielt er einen langen Schraubenzieher und fummelte damit verzweifelt im Auspuff seines alten Mopeds herum.

Das krieg ich doch nie wieder alles raus, fluchte er, und beachtete die Damen kaum. Das Ding kann ich austauschen! Und finde das mal original! Das ist 30 Jahre alt! Ein Liebhaberstück! Ein Unikat! Das ist – das ist alles – eine Katastrophe!!

Die Poesie trat an den verzweifelten Herrn heran und tippte ihm vorsichtig auf die Schulter: Darf ich das mal genauer betrachten, fragte sie und deutete auf den schmutzig schwarzen Ball.

Sicher, ich will es nicht mehr sehen! Fluchte der Mann und fummelte weiter mit dem Schraubenzieher im Auspuff.

Die Poesie nahm den kleinen Ball entgegen und faltete ihn auf. Er entpuppte sich als ein fest zusammengeknülltes Stück Papier, das jemand in den Auspuff des Mopeds gesteckt haben musste. Anscheinend steckte da noch mehr Papier drin, denn mit dem Schraubenzieher zog der Mann nun weitere kleine Fetzen heraus.

Halt dich fest, sagt die Poesie und reichte Euphoria das schmutzige Papier.

Euphoria musste sich tatsächlich auf dem Sitz des Mopeds abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, was den ohnehin sehr aufgebrachten Mann nicht besser stimmte. Schon wollte er anheben, etwas zu sagen, doch als er in Euphorias blasses Gesicht blickte, winkte er ab und fummelte stumm weiter mit seinem Schraubenzieher im Auspuff.

Euphoria schloss die Augen und blieb reglos, mit einer Hand auf den Mopedsitz gestützt, stehen.

Alle schwiegen.

Bei dem schmutzigen Papier, das Euphoria noch immer in der anderen Hand hielt, handelte es sich defintiv um Seite 1 des Bibliothekssoftwarehandbuches der Bücherei Kirchstetten.

Es ließ hier anscheinend also nicht nur jemand Bücher verschwinden. Es schien hier jemand die tägliche Arbeit der Bibliothekarinnen sabotieren oder mindestens erschweren zu wollen.

Jetzt hat er den größten Fehler überhaupt gemacht, grinste die Poesie.

Wie kannst du so heiter sein? Rief Euphoria entrüstet. Unser Handbuch, die Software – wir sind aufgeschmissen ohne das!

Sind wir nicht, beruhigte die Poesie. Im Gegenteil! Ich habe einen Plan…

14. Kapitel

Amanda Gormans „The Hill We Climb“ wurde umgehend wieder auf das Nachtkastel gelegt. Die Dame wirkte beruhigt.

Dürfen wir uns ein wenig umschauen? Fragte die Poesie.

Sicher, na klar, aber nicht wundern, sagte die Dame: Es ist nicht gesaugt und nicht gewischt! Seit ich in der Bücherei eingeschrieben bin, bin ich im Haushalt etwas nachlässig geworden. Ich denke mir aber, ein paar Staubflusen mehr, das ist doch wirklich kein Weltuntergang. Und dafür hab ich schon fast alle Bücher von Margaret Atwood durch! Außerdem hat es den positiven Effekt, dass nun mein Mann ab und zu ein wenig zu putzen beginnt…

Uns stört kein Staub und kein Schmutz, winkte die Poesie ab und spazierte mit Euphoria durch die Räume.

Nichts schien ungewöhnlich oder verdächtig zu sein. Euphoria und die Poesie standen bereits wieder in der Haustür, um sich zu verabschieden, als aus der Garage nebenan ein lautes Fluchen und Wutschnauben drang.

Das ist mein Mann, beschwichtigte die Dame des Hauses zuerst. Der ärgert sich sicher nur wieder über eine festsitzende Schraube an seinem alten Moped.

Doch sie hatte den Satz kaum beendet, da drang ein gellender Schrei aus der Garage. Es war kein Schmerzensschrei, der von einer Verletzung herrührte. Es war definitiv ein Schrei des blanken Entsetzens.

13. Kapitel

Jetzt schlägt‘s 13, rief die Poesie.

Ihr Bleistift glühte und zischte, als sie damit gekonnt Amanda Gormans „The Hill We Climb“ aus dem Regal fischte und in ihren Händen landen ließ. Ein Zettel ragte aus dem Buch, die Poesie zeigte sich wenig verwundert: Eine alte Rechnung aus dem ALT WIEN.

Seht euch das an, rief die Poesie und wedelte mit dem Zettel in der Luft: Dieser Unhold! Dieser Haderlump! Dieser – ich verbiete mir, es zu sagen!

Auf dem Zettel waren deutlich zwei Wörter zu erkennen, die jemand – natürlich mit roter Farbe – auf die Rückseite gekritzelt hatte. Euphoria nahm den Zettel aus der Hand der wütenden Poesie und las: Präpotente Göre.

Auch Euphoria blieb der Mund offen stehen ob dieser bodenlosen Unverschämtheit.

Nur um auszuschließen, dass jemand von unseren normalen Leserinnen oder Lesern es war, sagte sie, ich schaue nach, wer das Buch zuletzt entliehen hatte.

Euphoria hatte mit zwei Mausklicks alle Infos und wählte auf ihrem Smartphone auch schon die Nummer der betreffenden Dame.

Gut, dass du nachfragst, hallte es aus dem Hörer. Ich hatte mich schon gewundert – dachte schon, ich bin verrückt, berichtete die Dame. Das Buch lag auf meinem Nachtkastel. Und gestern morgen war es plötzlich einfach weg! Ich hatte schon meinen Mann verdächtigt, der verräumt mir gerne mal was. Aber an mein Nachtkastel traut er sich eigentlich nicht, seit wir getrennte Betten haben. Wegen dem Schnarchen. Und mit Büchern hat er sowieso nicht viel am Hut. Ich glaubte ihm also, dass er damit nichts zu tun hat. Dann habe ich an mir selbst gezweifelt – ob ich es selbst zurückgebracht habe? Aber ich bin sicher, ich war doch diese Woche noch gar nicht in der Bücherei! Das hätte ich mir doch gemerkt! Da wäre ich doch jetzt viel entspannter!

Nur die Ruhe, beschwichtigte Euphoria. Ist dir sonst etwas aufgefallen? War etwas ungewöhnlich bei dir zu Hause?

Die Dame überlegte. Dann hustete sie: Jetzt fällt mir schon was ein. Auch hier hatte ich meinen Mann verdächtigt. Aber vielleicht ist er doch nicht an allem schuld…also gestern, als ich aufstand, da roch es in der Küche nach Zigarrenqualm. Ich bin ganz sicher. Mein Mann hat das Rauchen vor Jahren eigentlich aufgehört, Zigarren hat er nie angerührt. Ich dachte kurz, na gut, vielleicht eine Art Midlife-Krise, das kann ja bei Männern in dem Alter mal vorkommen. Aber wenn ich es mir recht überlege – in Krisen neigt er meist eher dazu, übertrieben viel an seinem rostigen Moped herumzuschrauben. Zigarren passen irgendwie nicht zu ihm…

Das genügt! Rief die Poesie aus dem Hintergrund. Wir kommen vorbei und schauen, ob es weitere Spuren gibt. Und Amanda Gorman bringen wir dir wieder mit. Sie darf von keinem Nachtkastel der Welt frühzeitig verschwinden!